Kriminalfall
Lord Lucan – täuschte der mörderische Adelige seinen Tod nur vor?
1974 erschlug Lord Lucan das Kindermädchen Sandra Rivett. Dann verschwand er. Nun meldet sich eine Frau, die ihn zehn Jahre nach seinem angeblichen Tod beherbergt hat.
Lord Lucan gehört zu den geheimnisvollsten Kriminellen der britischen Geschichte. Nach außen gaben er und seine Frau Veronica das Bild eines perfekten Lebens der britischen Oberschicht. Der Titel, die noble Herkunft und ein Haus im noblen Viertel von Belgravia. Dann erschlug der Lord 1974 in einem rasenden Anfall das Kindermädchen Sandra Rivett mit einem Bleirohr – in seinem Wahn glaubte er, sie sei seine Frau.
Danach verschwand er spurlos – sein blutverschmierter Ford Corsair wurde einige Tage später verlassen im Hafen von Newhaven gefunden, aber sonst nichts mehr. Später wurde er für tot erklärt. Seitdem beschäftigten sein Verschwinden und mögliches Weiterleben die britischen Medien. Es gab wüste Theorien. Etwa dass sich der Lord bei Verwandten versteckt hatte, diese ihn aber wegen der Schande, die er über die Familie gebracht hatte, töteten und seinen Leichnam einem Tiger vorwarfen, den sie als Haustier hielten.
Club der Schwarzen Schafe
Nun beschwört eine Frau, Editha Moynihan, gegenüber der “Daily Mail”, dass sie Lord Duncan in den Philippinen gesehen hat, zehn Jahre nach dem Tod von Sandra Rivett. Ihre gesellschaftliche Stellung macht die Aussage plausibel. Editha ist die Witwe von Baron Moynihan von Leeds. Ein berüchtigter Aristokrat – den man mit Betrug, Prostitution und Drogenhandel in Verbindung brachte. Bei einer Gesellschaft waren auch Michael Taylour, der Marquess of Headfort anwesend, ebenfalls ein Mann von zweifelhaftem Ruf, und ein dritter Adeliger, den sie nicht kannte. Später sagte ihr Mann zu ihr, dass es sich um Richard John Bingham, Lord Lucan gehandelt habe.
Baron Moynihan lebte in Manila, weil er in Großbritannien wegen Betrugs gesucht wurde. Sein Vermögen hatte er verprasst, sich aber mit “Massagesalons” eine neue Geldquelle erschlossen. Zusätzlich konnte er “echte” Pässe besorgen. Dabei benutzte er den Trick, der in dem Roman “Der Schakal” beschrieben wurde. Er verschaffte sich Geburtsurkunden von Toten, damit wurden die Pässe beantragt. Das britische Meldewesen konnte nicht wissen, ob diese Personen gestorben waren.
Möglich wurden diese Geschäfte durch ein “Old Boy”-Netzwerk von Männern der Oberschicht, die zeitlebens eng verbunden blieben. Durch die Schulzeit, das Studium und das Militär. Bei Baron Moynihan und Lord Lucan kam das Glücksspiel hinzu. Lucan war professioneller Spieler und schwerer Alkoholiker. Gutaussehend, charismatisch und beliebt. Sein Freund John Aspinall sagte nach dem Mord an Sandra Rivett, um das Land zu verlassen, könne Lord Lucan “auf mehr Freunde zurückgreifen als irgendjemand anderes, den ich kenne.”
Lord Lucan hatte sein Gesicht verändert
Editha Moynihan sagte, Lucan sei aus Thailand auf die Philippinen gekommen, um seinen falschen Pass abzuholen. Lucan hatte sich verändert, sein Haar war inzwischen grau meliert. Dann hatte er sich ein künstliches Muttermal auf der Wange machen lassen. So auffällig, dass es die Blicke auf sich zog und das Gesicht zurücktrat. Lord Lucan war immer noch ein attraktiver Mann. “Er war etwas größer, aber trotzdem sehr sympathisch, sah sehr sauber aus und war sehr gut gekleidet. Ich war beeindruckt von der Art, wie er seine Kleidung trug, er war ein großer Mann.” Er habe keinen Bart mehr getragen und sei hagerer geworden. Zwei Tage habe er damals bei ihnen gelebt. Ihr Mann habe nie Geheimnisse vor ihr gehabt, so Editha Moynihan. “Warum sollte Tony mich anlügen … Und warum sollte er mir sagen, dass es Lucan war?”
Editha Moynihan sagte, sie habe sogar einen Beweis für ihre Behauptungen. Der Lord habe ihr zum Abschied eine Karte gegeben und sich eine Locke abgeschnitten und dabei gesagt, dass ihr dieses Geschenk später einmal von Nutzen sein würde. Ihr Mann habe ihr aufgetragen, Scotland Yard eines Tages zu sagen, dass der verschwundene Lord “kein Produkt der Einbildungskraft, sondern das Ergebnis ihrer eigenen Inkompetenz” sei. Das Blatt hält so etwas durchaus für möglich. Moynihan und Lucan waren eng befreundet und haben beide die Polizei verachtet. Die Idee, die Polizisten noch aus dem Grab heraus zu demütigen, hätte für die beiden einen hohen Reiz gehabt.
Schockierende Szenen einer Ehe
Lady Lucan starb 2017, ganz in der Nähe ihres alten Hauses. Das ganze Leben von Veronica, Dowager Countess von Lucan, wurde von dem Mord überschattet. In einer TV-Dokumentation und ihrer Biografie gab sie Einblicke in ihre zerstörerische Ehe. “Ich bedauere es zutiefst, dass meine Ehe schuld war, dass Sandra Rivett starb”, sagte Lady Lucan in der Dokumentation. Jeden Tag denke sie an Rivett. Sie selbst hatte damals wegen Depressionen starke Medikamente genommen. Sie lebte in der Angst, in der Psychiatrie zu enden. Ihr Mann hat manchmal wie weggetreten gewirkt. Bevor sie zusammen Sex hatte, züchtigte Lucan sie mit dem Rohrstock – aber nur maßvoll, nie unkontrolliert. In der Nacht des Mordes sei er vollkommen von Sinnen gewesen. Plötzlich kam er wieder zu sich gekommen. Sie erinnerte sich: “Er sagte mir dann ‘Dafür gehe ich nach Broadmoor’ (Ein berüchtigtes Zuchthaus, die Red.).”
Spekulationen, dass ihr Mann noch leben könnte, gab Lady Lucan keinen Raum. “Ich denke, er ist auf die Fähre gegangen und sprang in der Mitte des Ärmelkanals direkt über den Propellern ins Wasser, damit keine Überreste gefunden werden konnten. Er war ziemlich mutig.” In allen Äußerungen merkt man der Dowager Countess die Reue, aber auch die Faszination für ihren gewalttätigen Gatten an. Vielleicht hat sie ihn ihr ganzes Leben lang geschützt.