„Wie kann es nun weitergehen?“ Alexander Van der Bellen, der österreichische Bundespräsident hat am Mittwochabend die Optionen aufgezählt, die es gibt, um nach dem abermaligen Scheitern von Koalitionsverhandlungen zu einer Regierung zu kommen: Möglich wären Neuwahlen, eine Minderheitsregierung, eine Expertenregierung. Oder es wird doch noch eine Möglichkeit gefunden, dass die im September 2024 gewählten Parteien eine Regierung mit einer Mehrheit im Parlament bilden können. Van der Bellen hat ausdrücklich keine Vorliebe für eine dieser Varianten bekundet. Jede hätte ihre Tücken.
Neuwahlen wären auf den ersten Blick das Nächstliegende. Alle im Moment möglichen Varianten wurden ausgelotet, die meisten scheinen sogar ausverhandelt bis zu dem Punkt, an dem nichts mehr geht. Also: neues Spiel, neues Glück. Allerdings ist Politik kein Spiel, es geht um sehr wesentliche Entscheidungen für die Zukunft – und für die Gegenwart. So droht Österreich ein EU-Defizitverfahren, weil im laufenden Budget ein ungedecktes Minus von rund 6,4 Milliarden Euro klafft. Bis nach Neuwahlen dann endlich eine handlungsfähige Regierung ins Amt käme, wäre es im günstigsten Fall Hochsommer. Das wäre viel zu spät, um das Defizitverfahren abzuwehren und die Haushaltssanierung autonom zu gestalten.
Politische und menschliche Differenzen bleiben
Für Neuwahlen müsste das Parlament aufgelöst werden. Das geht über ein einfaches Gesetz, dafür reicht eine einfache Mehrheit. Unter Berechnung aller Fristen und Termine käme laut Austria Presseagentur realistischerweise frühestens ein Wahltag im Juni infrage.
Und dann beginnt es ja auch nicht bei Null. Die politischen und menschlichen Differenzen, die jetzt den Weg zu einer Regierung versperrt haben, würden durch einen neuerlichen Wahlkampf nicht verschwinden. Und ein fundamental anderes Wahlergebnis ist auch nicht absehbar. Jedenfalls keines, welches die sperrige FPÖ schwächen würde – die Umfragen deuten eher auf das Gegenteil. Kein Zufall, dass Kickl noch am Mittwochabend vehement möglichst baldige Neuwahlen forderte, sonst aber keine Partei.
Was das Menschliche betrifft: Die ÖVP hat zu Jahresbeginn ihren Chef ausgewechselt, nachdem Nehammer mit dem Versuch einer Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten (SPÖ) und Liberalen (Neos) gescheitert war. Dessen Nachfolger Christian Stocker ist als Wahlkämpfer auf Bundesebene unerprobt, auch wenn man sein Wahlkampfmanagement als Generalsekretär 2024 als solide ansieht. Stocker darf der alten, „schwarzen“ ÖVP zugerechnet werden, die im Zeichen der Sozialpartnerschaft, also der Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, noch immer einen Kompromiss mit der Linken gefunden hat. Aber mangelnde Kompromissfähigkeit war es eigentlich auch nicht, die Nehammer den Erfolg gekostet hat.
Babler und Kickl sitzen fest im Sattel
Dass die SPÖ ihren kontroversen Vorsitzenden Andreas Babler auswechselt, ist nicht zu erwarten. Zwar hat er mit seinen prononciert linken Positionen und einer angeblich erratischen Verhandlungsführung angeblich erst die Neos und dann die ÖVP zum Ausstieg aus den Koalitionsgesprächen bewogen. Babler hat in seiner Partei keineswegs nur Freunde. Aber die nach seiner Wahl erst erneuerten Statuten machen es schwierig und mindestens langwierig, den Chef loszuwerden. Per Palastrevolution im Vorstand, wie früher, geht es jedenfalls nicht mehr. Es braucht ein Mitgliedervotum und einen Parteitag.
Ein Austausch Kickls ist erst recht nicht wahrscheinlich. Er hat die Partei durch Wahlerfolge in Bund und Ländern in den vergangenen drei Jahren voll auf sich eingeschworen. Dass er für alle außerhalb der FPÖ ein rotes Tuch ist und – wie man jetzt beim Scheitern seiner Verhandlungen mit der ÖVP wieder gesehen hat – zur Anbahnung auch nur einer vernünftigen und vertrauensvollen Arbeitsbeziehung nicht begabt ist, wiegt für die „Blauen“ weniger als seine Wahlerfolge.
Die Grünen dürften hingegen einen Wechsel an der Spitze vornehmen. Werner Kogler, ein alter Fahrensmann, wird über kurz oder lang, so wird weithin erwartet, den Posten des Parteichefs an eine Frau abgeben, die bisherige Umweltministerin Leonore Gewessler oder Justizministerin Alma Zadic. Koalitionsgespräche würden dadurch aber nicht eben erleichtert, zumindest nicht mit der ÖVP. Denn die hat insbesondere mit diesen beiden bisherigen Kolleginnen auf der Regierungsbank so manches Hühnchen zu rupfen.
Die Neos haben noch vergleichsweise am wenigsten verbrannte Erde unter den Füßen, ihre Chefin Beate Meinl-Reisinger ist vorerst unangefochten. In kleinen Schritten, aber stetig, wachsen die „Pinken“ von Wahl zu Wahl. Allerdings werden ihre Parteifreunde möglicherweise ungeduldig werden, wenn sich das wieder nicht in eine Regierungsbeteiligung ausmünzt.
Es ist das schnöde Geld
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weswegen vor allem die früheren Großparteien von der Aussicht auf Neuwahlen wenig begeistert sein dürften, so sehr sie auch beteuern, keine Angst vor dem Wähler zu haben. Es ist das schnöde Geld. Die SPÖ ist notorisch klamm, aber auch der ÖVP fehlen seit den jüngsten Wahlniederlagen in Bund, Ländern und Europa mehrere Millionen Euro, mit denen sie seit ihren Erfolgen unter Sebastian Kurz aus der staatlichen Parteienfinanzierung rechnen durften. Die Möglichkeit zu Spenden ist per Gesetz eng beschränkt worden. Nur die Freiheitlichen schwelgen nicht nur in guten Umfragen (bis zu 35 Prozent), sondern auch in Geld.
Wie sieht es mit Option zwei des Bundespräsidenten aus? Als die ÖVP noch mit der FPÖ verhandelte und man mit einem Kanzler Kickl rechnen musste, erhoben sich plötzlich Stimmen aus allen Lagern in Politik und Gesellschaft, die der ÖVP eine Minderheitsregierung schmackhaft machen wollten. Schließlich könnte sie so weiterhin das Bundeskanzleramt besetzen, und wohl mehr Ministerien als in anderen Konstellationen. An der ÖVP vorbei ist keine politisch denkbare Regierung zu bilden, also würde es auf sie herauslaufen.
Bloß, genau das wird wohl, wenn es spruchreif wird, die SPÖ auf den Plan rufen. Die Sozialdemokraten haben aus Jahrzehnten der gemeinsamen Regierung in „großen Koalitionen“ ein mindestens ebenso großes Misstrauen gegenüber der Machtmaschine ÖVP angesammelt wie die FPÖ in ihren eher kurzen Perioden der gemeinsamen Regierung. Und ohne die Tolerierung der SPÖ oder aber der FPÖ würde eine Minderheitsregierung nicht funktionieren, ob sie nun aus ÖVP allein, ÖVP und Neos oder auch noch den Grünen bestünde.
Eine Experte- und Beamtenregierung?
Dann also doch ÖVP und SPÖ gemeinsam? Die beiden hätten immerhin eine Mehrheit im Parlament, wenn auch nur um eine magere Stimme. In Wien wird das zwar auch als eine Art Minderheitsregierung angesehen, schon wegen der notorischen Uneinigkeit der Sozialdemokraten. Deswegen hatte man ja beim ersten Koalitionsversuch noch eine dritte Partei hinzugeholt, die Neos, die aus Türkis und Rot das bunte „Zuckerl“ gemacht hätten. Da wären wir schon bei Van der Bellens Option Nummer vier.
Aber der Bundespräsident hat noch eine weitere Variante genannt. Wenn man den darüber kursierenden Berichten glauben darf, hat er die auch schon sehr konkret mit verschiedenen Personen ausgelotet. Das wäre eine sogenannte Experten- oder Beamtenregierung. Nach der Ibiza-Affäre 2019 und dem Auseinanderbrechen der damaligen türkis-blauen Koalition hat Van der Bellen schon einmal eine solche Regierung zusammengestellt. Sie amtierte nur ein halbes Jahr und fasste bewusst keine grundlegenden Beschlüsse. Aber sie erwarb unter der jüngst verstorbenen früheren Richterin Brigitte Bierlein hohes Ansehen, gerade weil sie niemandem wehtat.
Das würde diesmal wohl anders sein, schon wegen der Haushaltsnotlage. Aber auch sonst könnte der Gedanke für die Parlamentsparteien verlockend sein: Experten leiten die Reformen ein, von denen im Grunde jeder weiß, dass sie notwendig sind, vom Föderalismus bis zu den Pensionen. Den Zorn der Wähler müssten die parteilosen Experten nicht fürchten.
Aber natürlich gibt es da auch einen Haken. Denn eine Regierung kann Reformen in die Wege leiten, beschließen kann sie aber nur das Parlament. Da müssten Abgeordnete Kompromisse schmieden und möglicherweise Wählern etwas zumuten, und das, obwohl sie nicht einmal die Annehmlichkeiten, Gestaltungs- und Inszenierungsmöglichkeiten von Regierungsmitgliedern in Anspruch nehmen könnten. Da würde sich bald Unmut regen. So mächtig der österreichische Bundespräsident im Vergleich mit dem deutschen ist: Jede von ihm ernannte Regierung ist immer noch auf das Parlament angewiesen, das Gesetze beschließt – oder auch jederzeit ein Misstrauensvotum aussprechen kann.